Kino auf Rädern: Ländliche Distribution und Vorführung von Film in der UdSSR der 20er-30er Jahre
Der Slogan „Film für die Aussaatkampagne“ erschien Ende der 1920er Jahre in sowjetischen Zeitungen als Aufruf, das Kino zur Unterstützung der erzwungenen Kollektivierung während des ersten Fünfjahresplans (1928–1932) zu mobilisieren. Bald wanderte er in Produktionsplanungsdokumente und Richtlinien von Agitatoren über und entwickelte sich zu einer umfassenden Kategorie, die sowohl Propaganda- und Instruktionsfilme über Landwirtschaft als auch die Praxis der „ortsgebundenen Vorführungen“ umfasste, welche direkt neben den Feldern und Arbeitsstätten stattfanden, die sie transformieren sollten. Um diese Nachfrage zu decken, wurde eine große Anzahl von Einrollenfilmen produziert, oft aus früherem Filmmaterial neu zusammengesetzt. Dieses Projekt betrachtet sie als useful cinema und untersucht sie in Bezug auf die institutionellen Bedingungen ihrer Produktion, Verbreitung und Vorführung.
Die Dissertation fragt danach, wie das Kino sowohl zu einem Instrument der Ideologie als auch der Ökonomie wurde, wobei der Fokus auf seiner Einbettung in Schulungsprogramme, agitatorische Routinen und pädagogische Curricula liegt. In diesem Zusammenhang wird Film nicht einfach als Objekt verstanden, sondern als „Dispositiv der Planung“, eine Projektion der Kollektivierung, die dazu bestimmt war, den ländlichen Raum zu beherrschen und sowohl das Land als auch die Zuschauer zu kultivieren.
Indem es die Konturen eines staatlichen Projekts im Formulierungsprozess und als „Work-in-Progress“ widerspiegelte, erwies sich useful cinema als prekäre Kategorie und instabiles Material. Instruktions- und Agitationsfilme über die Kollektivierung wurden wiederholt neu geschnitten, umfunktioniert oder durch mündliche Begleitung neu gerahmt; viele blieben unvollständig oder unveröffentlicht, zirkulierten jedoch trotzdem als Instrumente der Planung und bürokratischen Berichterstattung. Diese fragilen Zirkulationsregime und Spuren institutionellen Handelns bilden den Gegenstand dieser Studie, die das Kino als instabiles Material untersucht, das für eine instabile Politik produziert wurde, und als Dispositiv der Planung, das staatliche Macht auf unruhige Transformationsräume projizierte.



Profil
Victoria Elizarova ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Graduiertenkolleg „Konfigurationen des Films“ an der Goethe-Universität Frankfurt. Sie erhielt ihren B.A. und M.A. in Filmwissenschaften vom Gerasimov Institut für Kinematographie VGIK, Moskau. Sie arbeitete als Forschungsassistentin im Filmarchiv Gosfilmofond Russland und war dort als Kuratorin der Filmsammlung tätig. Sie hat als Programmgestalterin in einer Reihe von Festivals mitgewirkt. Zu ihren Forschungsinteressen gehören Filmkulturen, Postkolonialismus sowie Amateur- und nicht-theatralische Filmformen.