Über Marginalität und Authentizität hinaus: Queerness im dokumentarischen Filmemachen in China neu denken
Der dokumentarische Impuls hat eine entscheidende Rolle bei der Darstellung von Queerness in der Volksrepublik China (VR China) gespielt, insbesondere mit der Verbreitung digitaler Videotechniken in den 2000er Jahren. In dieser Zeit entstanden eine Vielzahl queerer Dokumentarfilme, welche oft trans* Personen in den Fokus rückten, die als sozial marginalisierte Individuen im postsozialistischen Kontext Chinas repräsentiert werden. Diese Filme nähern sich ihren Sujets typischerweise mit einer „authentischen“ Linse, die dokumentarischen Realismus (jishi zhuyi) und die Idee eines Wahrheitsanspruchs begünstigt. Dieses Engagement für die Dokumentation von Queerness im Stil des cinéma vérité ist zu einem neuen Paradigma in der queeren visuellen Kultur Chinas geworden. Die dokumentarische Ästhetik, gekennzeichnet durch einen beobachtenden Modus und das Postulat „Meine Kamera lügt nicht!“, wurde von unabhängigen Filmemacher_innen weithin übernommen. Sie bietet auch eine einzigartige Perspektive auf die sich wandelnden Realitäten Chinas, indem sie die gelebten Erfahrungen subalterner Gruppen hervorhebt und inoffizielle Erzählungen auf sozial engagierte Weise präsentiert.
Queerness wird durch ihre enge Verbindung mit dem unabhängigen dokumentarischen Filmemachen auf komplexe Weise geformt und repräsentiert, wobei sie unter dem Deckmantel eines vermeintlichen Wahrheitsanspruchs „dokumentiert“ wird. Authentisch marginalisierte queere Subjekte stehen unter der Autorität des dokumentarischen Realismus für eine Idee von Queerness ein. Ich behaupte jedoch, dass dieser Ansatz Queerness ungewollt einschränkt. In seiner Verkettung mit der dokumentarischen Form essentialisiert er Queerness entlang „sozialer Ränder“ oder stellt sie lediglich in Bezug auf instrumentalisierte Dissidentenkörper dar, die häufig im Widerspruch zu den offiziellen Narrativen stehen. Die formalen Qualitäten und Ästhetiken bestimmter unabhängiger Werke, wie der beobachtende Modus und das direkte Kino, erzeugen queere Darstellungen, die das Publikum dazu bringen, Queerness vor allem durch das Prisma des dokumentarischen Realismus zu verstehen. Doch diese Fokussierung auf Authentizität und das obsessive Bestehen auf einen Wahrheitsanspruch übersieht die „vielen Alternativen“ (Juhasz 1994) [1] innerhalb queerer Medien. Diese Alternativen hinterfragen die nicht-interventionistische visuelle Dokumentation, welche nicht in der Lage ist, die Komplexitäten und Zufälligkeiten des queeren Lebens vollständig zu erfassen, da sie queeren Widerstand, Fürsorge und die zarten Nuancen queerer Erfahrungen oft vernachlässigt. Darüber hinaus ist es wichtig, das queere dokumentarische Filmemachen im Diskurs über die unabhängige Natur filmischer Praxis in der VR China zu untersuchen: Die inoffizielle Produktion und Verbreitung dieser Werke spiegelt gemeinsame Kämpfe und Verbindungen mit der queeren Gemeinschaft und ihren kollektiven Bestrebungen wider.
Dieses Projekt zielt darauf ab, die oft als marginal und authentisch dargestellte „dokumentierte“ Queerness in unabhängigen chinesischen Dokumentarfilmen der 2000er Jahre kritisch zu untersuchen. Es argumentiert, dass Queerness nicht einfach dokumentiert, instrumentalisiert oder innerhalb des Rahmens der „Wahrheitsherstellung“ eingeschlossen und entlang „sozialer Ränder“ essentialisiert werden kann. Stattdessen spricht Queerness für alternative Formen, vielschichtige Darstellungen sowie gemeinschaftlich engagierte Produktion und Verbreitung, die von queeren Filmemacher_innen, Gemeinschaften und Kollektiven geleitet werden. Durch die Hervorhebung von Widerstand, Erinnerung und Affekt fordern queere Dokumentarfilme aus den 2010er und 2020er Jahren die starren Konventionen des dokumentarischen Filmemachens heraus und radikalisieren das Genre durch mutige, experimentelle, partizipative und affektive Ansätze. Diese Werke gehen über die Darstellung von Queerness als bloß marginales oder authentisches Gegenstück zu „offiziellen Narrativen“ (guanfang xushi) hinaus. In diesem Prozess repräsentieren sie Solidarität, Radikalität und vielschichtige Queerness und navigieren zugleich die Grenzen konventioneller Produktion und Verbreitung angesichts des sich wandelnden soziopolitischen Klimas in China.
[1] Alexandra Juhasz: So Many Alternatives: Part 2. The Alternative AIDS Video Movement, in: Cineaste Magazine, November 1994, pp. 37-39, https://alexandrajuhasz.com/wp-content/uploads/2018/11/cineaste_so_many_alternatives2.pdf
Profil
Pei ist Doktorandin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Graduiertenkolleg „Konfigurationen des Films“ an der Goethe-Universität Frankfurt und Universität Mainz. Sie studierte Kunstgeschichte und Theater-, Film-, und Medienwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt. Pei ist Gründungsmitglied der Gruppe Queer Squad, einer chinesischsprachigen queer-feministischen Community in Frankfurt. Sie setzt sich für sozialen Aktivismus im transkulturellen Kontext ein, kuratiert Screenings und Veranstaltungen zu den Themen Gender/Sexualität und Identität, und sie verbindet gesellschaftskritische Diskussion mit interdisziplinären Aspekten von Film, Kunst und Subkultur.